Die über Jahrhunderte gereiften Märchen sprechen die Bildsprache unserer Seele und bringen zum Ausdruck, was uns auf dem Herzen liegt und in der Seele brennt, doch oft nicht in Worte gefasst werden kann. Märchen spenden Trost und geben Halt.“ (Hospiz-Akademie Bamberg) "Denn es ist ja gar nicht leicht, das auszusprechen, was mich tief innerlich bewegt.“ (Heinrich Dickerhoff, Märchen im Hospiz, 2007; S. 140) Ich besuche und begleite Ihre Angehörigen am Ende des Lebensweges mit ausgewählten Märchen. Durch den guten Ausgang, der einem echten Märchen innewohnt, spenden Märchen Trost und können ein Gefühl der Geborgenheit schaffen. Meine Ausbildung als Hospizbegleiterin und Betreuungsassistentin sind die Grundlage für meine Arbeit mit Sterbenden. Einfühlsam und unaufdringlich nehme ich Kontakt auf, um zu erspüren, was gewünscht ist. | ![]() |
Du wirst Dich trennen. Von den Magnolienbäumen und den jubilierenden Vögeln, Von deinem Haus und den Händen die es bewohnbar machten. Von der hartnäckigen Gewohnheit die Augen aufzuschlagen und zu schließen wenn der Traum dich ruft. Vom Wort das dich erschaffen hat. Du wirst dich trennen. Von deinem Schatten der dich lebenslang verfolgte im Licht. Die Erde wird sich trennen von dir und deiner Liebe zu ihr. ~Rose Ausländer~
Das Tränenkrüglein
Es waren einmal eine Mutter und ein Kind, und die Mutter hatte das Kind, ihr einziges, lieb von ganzem Herzen und konnte ohne das Kind nicht leben und nicht sein. Aber da sandte der Herr eine große Krankheit, die wütete unter den Kindern und erfasste auch jenes Kind, dass es auf sein Lager sank und zum Tod erkrankte.
Drei Tage und drei Nächte wachte, weinte und betete die Mutter, die nun allein war auf der ganzen Gotteserde, ein gewaltiger und namenloser Schmerz und sie aß nicht und trank nicht und weinte. Weinte wieder, drei Tage lang und drei Nächte lang ohne Aufhören und rief nach ihrem Kinde. Wie sie nun so vollen tiefen Leides in der dritten Nacht saß, an der Stelle, wo ihr Kind gestorben war, tränenmüde und schmerzensmatt bis zur Ohnmacht, da ging leise die Türe auf, und die Mutter schrak zusammen, denn vor ihr stand ihr gestorbenes Kind.
Das war ein seliges Engelein geworden und lächelte süß wie die Unschuld und schön wie in Verklärung. Es trug aber in seinen Händchen ein Krüglein, das war schier übervoll. Und das Kind sprach:
"0 lieb Mütterlein, weine nicht mehr um mich! Siehe, in diesem Krüglein sind deine Tränen, die du um mich vergossen hast; der Engel der Trauer hat sie in diesem Gefäß gesammelt. Wenn du noch eine Träne um mich weinest, so wird das Krüglein überfließen, und ich werde dann keine Ruhe haben im Grabe und keine Seligkeit im Himmel.
Darum, O lieb Mütterlein, weine nicht mehr um dein Kind, denn dein Kind ist wohlaufgehoben, ist glücklich, und Engel sind seine Gespielen." Damit verschwand das tote Kind und die Mutter weinte hinfort keine Träne mehr, um des Kindes Grabesruhe und Himmelsfrieden nicht zu stören. ~Ludwig Bechstein~
Lass mich schlafen, bedecke nicht meine Brust mit Weinen und Seufzen, sprich nicht voll Kummer von meinem Weggehen, sondern schließe deine Augen, und du wirst mich unter euch sehen, jetzt und immer. ~Kahil Gibran~
Das Leben ist stärker als der Tod
Einst lebte Iskander Surkuma. Er war noch jung an Jahren, aber er war oft krank gewesen, und eines Tages merkte er, dass er sterben sollte. Da rief er seine Freunde zu sich und sprach zu ihnen:„ Meine Zeit ist gekommen und ich werde bald sterben. Wenn ich tot bin, kleidet mich in meinen besten Anzug und legt meinen Körper auf die Totenbahre. Lasst meine rechte Hand herunterhängen. Dies ist ein Zeichen für meine Mutter, dass ich eines natürlichen Todes gestorben bin und sie meinen Tod nicht rächen muss.“ Dann starb Iskander.
Er wurde in seinen schönsten Anzug gekleidet und auf die Bahre gelegt. Seine rechte Hand hing herunter. Dann richtete man ihm sein Totenlager in seinem Zimmer und schickte nach seiner Mutter, denn er sollte nicht ohne sie begraben werden.
Als sie kam, sah sie die rechte Hand als Zeichen eines normalen Todes und sprach zu seinen Freunden: „Auf der Erde ist nichts von Dauer. Alles was geboren wird, muss auch wieder sterben.“ Dann sagte sie mit Tränen in den Augen: „Ich erlaube nicht, dass ihr meinen Sohn jetzt beerdigt. Ich werde in seinem Zimmer Totenwache halten.“ Sie nahm einen Stuhl und setzte sich ans Kopfende der Totenbahre, um bei ihrem toten Sohn Wache zu halten. Die Freunde waren besorgt. „Was sollen wir tun? Wie lange will die Alte jetzt bei ihm Wache halten? Wenn wir Iskander nicht begraben, wird er bald anfangen zu stinken und zu verfaulen.“ Aber sie konnten nichts machen. Sie hängten über dem Leichnam einen Korb mit Brot, frischen Obst und einem Krug Wasser auf. Dann verließen sie den Raum und ließen die Mutter mit dem Verstorbenen allein. Die Tage kamen und gingen. Der Sommer wurde immer heißer, und die Leute im Dorf fingen an, sich Sorgen um das Wohl der Mutter zu machen.
Die Frau aber saß am Bett ihres toten Sohnes und fühlte ihren Schmerz. Sie spürte, wie schwer es ihr fiel zu akzeptieren, dass alles, was kommt auch gehen muss. Sie erinnerte sich an die Zeit, die sie mit ihrem Sohn verbracht hatte und sah die Vergangenheit wie Bilder an sich vorüberziehen. Und neben dem Schmerz und der Liebe die sie fühlte, begann sie bald noch etwas anderes zu spüren. Sie spürte Hunger und Durst. Und je länger sie Totenwache hielt, desto größer wurde ihr Verlangen.
Nach einiger Zeit hob sie ihren Blick vom Leichnam und sah sich im Zimmer um. Da erblickte sie den Korb mit dem Brot, dem Obst und dem Krug Wasser, der über dem Toten hing. Sie türmte Polster und Decken auf den Leichnam ihres Sohnes und kletterte hinauf, um an den Korb mit den Lebensmitteln zu kommen.
Dann setzte sie sich in eine Ecke des Raumes und aß und trank. Als sie fertig war, öffnete sie die Zimmertüre, ging zu den Freunden des Verstorbenen und sagte:“ Ihr könnt meinen Sohn jetzt begraben. Das Leben ist stärker als der Tod.“ ~Märchen aus Kurdistan~
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